Heimat

Es gibt keine "lokalisierbare Heimat" bezüglich einer Verortung willkürlicher Koordinaten; Heimat ist mir immanent - nicht global, sondern universal!

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Arnold Stadler: "Heimwärts" hieß für mich "bergauf"

"Heimwärts ist für mich bergauf" schrieb Peter Handke, auf meinen Wunsch, in mein Poesiealbum. Das ist eine Feststellung, die ich am Anfang eines Poesiealbums sehen wollte.

Tatsächlich geht es bergauf, was die lokalisierbare "Heimat" angeht. Wenn auch nicht so steil, wie vielleicht anderswo: nur gute 250 Meter über dem Bodensee liegt die sogenannte "Heimat". Das ist bei uns, vielleicht nicht nur bei uns, ein altes, aussterbendes Wort für nichts anderes als Haus und Hof. Das Wort "Heimat" hat keinen Sinn mehr, obwohl es an sich ein schönes Wort ist, auch auf dem sogenannten Land nicht, das immer noch die Illusion nahelegen mag, es gebe so etwas wie Boden unter den Füßen. Doch das ist auf einer Kugel gesagt, die als solche nicht erkennbar und kaum vorstellbar ist. Mit Menschen drauf, die versuchen, über die Runden zu kommen, die eckig sind. Jeder fünfte (Mensch) (= 1200 Millionen) hat kein richtiges Wasser mehr, was noch wichtiger wäre als Boden unter den Füßen, gleichzeitig werden auf der IAA (Internationale Automobilausstellung Frankfurt) die "Modelle der Zukunft" vorgeführt, als ob das eine mit dem anderen nichts zu tun hätte. Wer möchte noch bestreiten, daß die Schizophrenie eine Krankheit ist? Wir leben auf einer Kugel, die im Innern wohl glüht. Deren Oberfläche keinen Anfang und kein Ende und kein Zentrum hat. Das Wort "Heimat" hat keinen Sinn mehr, so wenig wie "Ende der Welt" auf einer Kugel mit Menschen drauf. Wir sind allem gleich nah und gleich fern (Fernsehen), Nähe oder Distanz bezeichnen eigentlich nichts anderes als die Entfernung des Zuschauers zum Bildschirm. Jeder Teilnehmer mit Anschluß ist gleich erreichbar oder unerreichbar (Telekommunikation). Jeder, der es sich leisten kann, fährt oder fliegt an ein Ziel, das er sich ausgedacht hat. Die Freiheit innerhalb dieses Systems ist wunderbar. Wir erreichen auch Ziele, die früher der Sehnsucht vorenthalten blieben. Da muß sich die Sehnsucht ein neues Feld suchen, und ebenso das Heimweh. Ein Heimatflughafen läßt sich kaum als Heimat bezeichnen. Heimatfriedhof hätte mehr mit Heimat zu tun. Es gibt Menschen, die "Land" immer noch mit "Heimat" verwechseln, trotz allem, und Literatur, die das Land (genauer: die Menschen) zur Sprache bringt, mit Heimatliteratur verwechseln. Trotz Thomas Bernhard, "Schöne Tage" und "Wunschloses Unglück", zum Beispiel. Auch in meinen Büchern kommt nur die Heimatlosigkeit zur Sprache, oder die Sprachlosigkeit von Menschen, die auf dem Land wohnen, das auf der Welt ist, das zur Welt, die eine Kugel ist, gehört. Also: ich beschreibe nicht die Heimat, sondern die Heimatlosigkeit des Menschen. Sätze eines Phänomenologen, der etwas näher hinschaut, eines aufmerksamen, aufgeklärten Menschen, mit einer Anhänglichkeit versehen, entstehen derart. Dazu kommt die Kategorie des Erbarmens, vielleicht ein katholisches Relikt. Wer hat sich dieser Menschen jüngst schon angenommen, ohne nicht zugleich mit ihnen abzurechnen?Nicht abzurechnen ist nicht einfach, wer will schon, auch mit den Menschen auf dem Land, nicht abrechnen, nach allem, was war, am Ende eines dunklen Jahrhunderts? Ich verstehe diese Menschen auch nicht, so wenig wie anderswo. Doch abrechnen, das kann ich nicht, das steht mir auch nicht zu. Überall auf der Welt wurde dieses Jahrhundert (dessen zweite Hälfte ich mehr oder weniger miterlebt habe, wenn zumeist auch über den Bildschirm und Nachrichtenmagazine), von Menschen selbst so eingerichtet und "gestaltet". Es war ein monströses, dunkles Jahrhundert, ein Jahrhundert, als hätte es nie eine Aufklärung gegeben. Mit dieser "zweiten" Aufklärung sehen wir uns am Ende konfrontiert.

Das gilt für die ganze Kugel, für jeden bewohnten Landstrich.Heimat?Aber ich habe, trotz allem, die Hoffnung, was den Menschen und die Erde angeht, noch nicht aufgegeben. Auch hier gilt der Satz für mich, den ich im "Hinreissenden Schrotthändler" geschrieben habe: "Ich war schon ganz verzweifelt, weil ich immer noch soviel Hoffnung hatte." Und auch Walter Benjamin: "So bleibt am Ende viel Hoffnung, nur nicht für mich." Also: gute 250 Meter über dem Bodensee lag die sogenannte "Heimat". Zunächst die beschreiblichen Felder der Erinnerung: Mitten in diese Felder meiner Erinnerung sind Neubaugebiet und Industriegebiet hineingestellt, wie überall, auch in der sogenannten Heimat. Doch nirgendwo sonst in Mitteleuropa würden derartige Projekte noch genehmigt, die bei klarem Wetter vom Mond aus mit bloßem Auge zu erkennen sein dürften. Das war nur hier noch möglich, weil hier noch an den Fortschritt geglaubt wird, mitten in einer Gegend, die vom Hausheiligen Martin Heidegger noch für "heil" gehalten wurde, und mit ihr die Menschen und ihre Sprache. Ich habe in derselben Gegend das Licht der Welt erblickt und schon kurz darauf Erfahrungen gemacht, die von den großen Beobachtungen Heideggers abweichen. Heimat: das exemplarisch Kranke, beispielhaft für die Welt, auf der wir leben.

Doch es gibt nun auch hier ein Fitneßstudio und davor die Geländewagenparade der Menschen, die hier geblieben sind, Geländewagen, obschon das Gelände doch gar nicht so steil ist, vielleicht auch Sehnsucht nach einer Wüstentour. Im Fitneßstudio mühen sich nun Leute ab, an der Stelle, wo früher die Ernte eingebracht wurde "im Schweiße ihres Angesichts", wie in der Heiligen Schrift versprochen.

Noch einmal fünfzig Meter bergauf: der Heimatfriedhof. Oder das, was von ihm übrig blieb, denn unsere von Stuttgart geschickten Verwaltungs-Kolonialbeamten haben angeordnet, daß alle alten Grabsteine beseitigt werden, auch weil sie nicht mehr in die Zeit passen, und weil sie nicht der Ästhetik vor Ort entsprechend: und dem Denken im rechten Winkel. Das Schöne ist das Neue, und das Glatte und das Saubere, und das, was glänzt. So muß ein richtiger Grabstein aussehen. Und damit bin ich am Ende meiner kleinen Geschichte: und eine Lektion meiner Vergänglichkeit.*

* Ich rate, im Angesicht dieser furchtbaren Leerstelle, keinen ganz so teuren Grabstein zu kaufen, ein einfaches Holzkreuz wäre auch schön. Denn falls in dreißig Jahren derartige Leute am Ruder sind, und das ist traurig und wahrscheinlich, Leute, die Ordnung mit Friedhofsordnung verwechseln, deren ästhetischer Maßstab der rechte Winkel und deren Vorstellung der Welt in irgendeiner Weise mit der Rüttelmaschine zu tun haben muß, dann werden in dreißig Jahren, vom Ende dieses traurigen Jahrhunderts an gerechnet, diese Grabsteine gerade entfernt, mit vollem Recht unter Hinweis auf das geltende Friedhofsordnungsgesetz, auf das sich die Verwaltungs- und Schreibtischtäter aller Zeiten beriefen. Ich rate also zu etwas ganz Einfachem, Schlichtem, oder vielleicht gleich zu einer anonymen Beisetzung, auch weil der alte Glaube ziemlich verschwunden ist, bei diesen Grabsteinpreisen!bei dieser Grabmiete!also gleich zu gar nichts, damit uns keine Erinnerung mehr (an den Tod) mehr quält und keine Erinnerung mehr bleibt, die Toten sind eh tot, sie sehen's ohnehin nicht mehr, also die beste Lösung summa summarum: überhaupt kein Grab mehr, dann sind wir den Tod los, und dereinstigen nachfolgenden Menschen, die auch noch nicht verroht sind, bliebe ein derartiger Anblick erspart.

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